Prolog: 19. Dezember.
An meinem dritten Simulatortag in Folge, darf ich jenen Kapitän befruchten, mit dem ich morgen, an meinem vierten Arbeitstag, nach New York fliege. In der Mittagspause sprechen wir darüber, dass wir froh sind, dass keine Winteroperation droht…
20.Dezember (Zeiten in Schweizer Lokalzeit)
08:00 Beim ersten Blick aus dem Fenster weiss ich, dass wir die Geschichte gründlich verschrien haben. Der Wind pfeift eiskalt ums Haus und im dichten Schneegestöber finde ich kaum den Briefkasten mit der Morgenzeitung.
09:45 Nach einem Kaffee und dem Packen des Koffers, bin ich gerade dabei meinem Junior die letzten Tropfen seines Schoppens einzuflössen, als das Telefon klingelte: „Grüezi Herr Skypointer. Ihr Flugzeug hat einen technischen Defekt. Der Flug startet nicht wie geplant um 13:00. Bleiben sie zu Hause bis wir sie wieder anrufen – dann müssen sie aber innert einer Stunde am Flughafen sein!“ meint die nette Dame am anderen Ende des Drahtes. „Aha. Verstanden. Aber entschuldigen sie die Frage: Haben sie schon einmal nach draussen geschaut? Eine Stunde? Ich werde mir Mühe geben…“
11:00 Ich versuche den Vorplatz vom Schnee zu befreien. Sisyphos. Hoffnungslos.
11:45 Es klingelt erneut. Briefing um eins. Also buddle ich mein Auto nochmals aus und schlittelte zum Flughafen, den ich, ziemlich stolz, knapp vor der geforderten Zeit erreiche.
12:45 Check-in
12:50 Beim Check-in treffe ich drei gute Kollegen, mit denen ich gerne einen Schwatz halten würde. Aber dafür habe ich keine Zeit. „Hoi, wie gahts? Kommst Du oder gehst Du? Stimmt Du siehst noch fit aus. Dumme Frage. Shanghai? Da war ich auch schon lange nicht mehr! Und Du? San Francisco? Cool. Und Du? Montreal? Dahin fliege ich nächsten Monat. Habe keine Zeit. Bin im Stress. Ich? New York. Ja reichlich spät. Und Tschüss…“
13:00 Der Kapitän fehlt noch. Ich besorge die Planungsunterlagen und beginne mit der Flugplanung. Die defekte Maschine wurde durch eine andere ersetzt.
13:10 Der Kapitän trifft ein.
13:15 Briefing mit der Cabin Crew.
13:30 Nach einer Planung im Schnelldurchlauf, geht es zum Flugzeug. Der Start ist auf 14:30 angesetzt.
14:20 Der Lademeister meldet, dass sämtliche Passagiere an Bord und auch Fracht und Gepäck geladen sind. Allerdings hätten wir soeben eine neue geschätzte Startzeit um 14:30 zugeteilt erhalten. „Perfekt. Dann machen wir uns auf den Weg“ „14:30 Zulu, also 15:30 Lokalzeit. Wisst ihr nichts darüber?“ bemerkt der Loadmaster trocken. Wissen wir nicht.
14:30 Nach einigem Nachfragen erfahren wir, dass wir erst um 16 Uhr für die Enteisung geplant sind. Da sämtliche Langstreckenmaschinen der Mittagswelle gleichzeitig auf den 4 Enteisungsplätzen abgespritzt werden müssen und die vollständige Enteisung eines Grossraumjets etwa 20 Minuten dauert, ist das System heillos überfordert. Während der folgenden Wartezeit stellen wir fest, dass fast alle Kollegen noch nicht in der Luft sind. Miami, Chicago, San Francisco, Los Angeles, Shanghai und Montreal warteten ebenfalls noch auf ihr Deicing. Dazu kommt noch die Konkurrenz aus Dubai, Thailand und weiss Gott wo.
14:35 Der San Francisco Flug nebenan dürfte zurückstossen. Leider hat ein Passagier ein medizinisches Problem und muss mit der Ambulanz abgeholt werden. Das kann dauern…
14:40 Ich habe genügend Zeit den Bericht zum Pistenzustand nochmals abzuhören und die Startberechnung anzupassen. Der Pistenzustand wird immer schlechter. Ich werde das im Auge behalten.
14:52 Es kommt was kommen musste: 18 Millimeter Schneematsch im letzten Drittel der Piste 16. Da maximal 13 Millimeter zulässig sind, ist ein Start für uns nicht mehr möglich.
14:54 Ich melde das Problem an unsere Einsatzleitstelle und forderte sie auf vom Flughafen eine Pistenräumung zu verlangen.
15:00 Es schneit nicht mehr!
15:15 Die Piste 16 wird für eine halbe Stunde geschlossen und gereinigt. Ein Problem gelöst…
15:30 Ein Steward meldet sich im Cockpit und teilt uns mit, dass er nicht bereit sei Overduty zu leisten. Er sei müde und demotiviert, denn er an Stelle der traditionellen Weihnachtsgratifikation nur ein Käsebrett erhalten und die Fragestunde mit unserem obersten Chef heute Morgen hätte seine Stimmung nur noch verschlimmert.
15:45 Mit vereinten Kräften hat der Kapitän, die Maître Cabin und Copi Skypointer (der nicht gesagt hat, dass er das Käsebrett eigentlich noch ganz cool findet) den Steward überzeugt doch nicht auszusteigen. Flug gerettet.
15:54 Bewilligung zum Zurückstossen.
16:08 Enteisung beginnt. Man merke: Nur 8 Minuten nach der vor eineinhalb Stunden angekündigten Zeit. Eine hervorragende Leistung der Enteisungsmannschaften!
16:15 Es schneit wieder!
16:25 Enteisung abgeschlossen.
16:30 Der Montreal Flug kehrt kurz vor der Piste um und muss ein zweites Mal enteisen, da sich mittlerweile wieder Schnee auf den bereits behandelten Flügeln ansetzt.
16:36 Take-off Richtung New York.
19:14 Mitten über dem Atlantik. Eine Passagierin hat Atemnot wegen einer allergischen Reaktion. Eventuell müssen wir in Santa Maria auf den Azoren zwischenlanden. Obwohl ich sicher bin, dass ich alles weiss, lese ich zur Sicherheit nochmals die Nordatlantik Contingeny Procedures nach, während die Kabinenbesatzung nach einem Arzt sucht.
19:20 Ein Arzt hat sich gemeldet und behandelt die Passagierin.
19:40 Der Passagierin geht es etwas besser. Der Flug kann weiter gehen.
20:43 Wir erhalten einen Telex, in der sich die Kabinenführung bei allen Flight Attendants der heillos verspäteten Mittagswelle für ihren Einsatz und die geleistete Overduty bedankt und eine zusätzlichen Freitag verspricht.
20:44 Mein Kapitän schaut mich an und fragt: „Kriegen wir das auch?“
20:44:02 Ich verdrehe die Augen und sage: „Träum weiter!“
21. Dezember
01:15 Der Anflug nach New York JFK beginnt. VOR Approach RWY 22L. Der Anflug ist um 7° versetzt zur Pistenachse. 3.1° Anflugwinkel. Nicht ganz trivial. Aber wenigstens regnet und bläst es nicht.
01:24 500 Meter über Grund. Es beginnt zu regnen.
01:26 Ich lande die Maschine nach einer reinen Flugzeit von 8:40 in New York.
01:32 Unser Standplatz ist besetzt. Warten.
01:40 Endlich ist unser Gate frei. Wir können weiterrollen.
01:42 Block on. Blockzeit 9:48. Duty Time 12:57 trotz verschobenem Check-in. Resultierende Overduty: 57 Minuten.
02:05 Wir verlassen das Flugzeug.
03:00 20. Dezember 21:00 Lokalzeit in New York. Ankunft im Hotel. Schlüssel fassen.
03:20 Ohne Bier ins Bett!
Epilog:
Die durchschnittliche Verspätung der SWISS Flotte betrug mehr als 60 Minuten, 98 Flüge hatten eine Abflugsverspätung von über einer Stunde, 47 Flüge mussten gestrichen werden.