Angefangen hat es ganz gemütlich. Den Flug nach Los Angeles begann ich, nach der Planung und dem Start, zuerst einmal im Crewbunk. Nach einem ausgedehnten Mittagsschlaf wurde ich irgendwo über Grönland aus den Träumen gerissen und übernahm den gut vorgewärmten Stuhl des Kapitäns. Während knapp 3 Stunden und 40 Minuten sollte ich als PIC (das ist keine Minisalami, sondern der Pilot In Command) den Kommandanten während seiner Zimmerstunde vertreten.
Als ich mich installiert hatte, berichtete mir der zweite Kopilot, dass alles im grünen Bereich sei. Der Treibstoffverbrach entwickelte sich wie geplant und wir lagen sogar einige Minuten vor dem Flugplan. Der nächstgelegene Flugplatz war Kangerlussuaq am schönen Sondre Stromfijord und der geplante Ausweichplatz in dieser Gegend war Goose Bay in Labrador.
Nach reiflicher Überlegung entschied ich, dass es trotzdem das Beste sei, Richtung L.A. weiter zu fliegen und so genossen wir die Aussicht auf die Westküste Grönlands und etwas später auf Baffin Island in Nordkanada. Kurz nach Iqaluit, einer weiteren, theoretischen Landemöglichkeit an der berühmten (O.K. nur für Piloten) Frobisher Bay, besuchte uns die Kabinenchefin mit der Meldung ein Passagier sei zum Patienten mit möglichen Herzproblemen mutiert und sie müsse nach einem Arzt suchen.
Nach dieser Ansage meldete sich eine spanische Zahnärztin bei der Kabinenchefin und der Kapitän bei mir. Nicht dass letzterer Arzt gewesen wäre, aber mein Chef wollte wissen was die nächsten Landemöglichkeiten wären. Da ich mich mit dieser Frage natürlich längst befasst hatte. Konnte ich sofort Auskunft geben: 40 Minuten bis Iqualit, 90 Minuten bis Churchill an der Hudson Bay (wo es übrigens die Möglichkeit für Eisbären Sightseeing gäbe) und knapp 3 Stunden bis Edmonton, wo sicher ein vernünftiges Spital existiere. Zudem sagte ich dem Kapitän, dass die geschilderten Symptome, gemäss meiner berufenen Ferndiagnose, noch nicht auf einen wirklich dramatischen Fall hindeuteten und das ich die Kabinenchefin angewiesen hatte dem Passagier den Puls zu messen.
Nachdem der Kapitän unserem Patienten einen kurzen Besuch abgestattet hatte, betrat er erneut das Cockpit und teilte uns mit, die Zahnärztin hätte eine Tachykardie diagnostiziert und Coramin verabreicht. Meine Frage nach dem Puls konnte aber nach wie vor niemand beantworten. Mit dieser Eskalation beschlossen wir via Satellitentelefon einen REGA Arzt zu konsultieren und wir programmierten zur Sicherheit einmal einen Anflug nach Churchill in unseren Navigationsrechner. Der Telefondoktor empfahl zur allgemeinen Überraschung zuerst einmal Puls und Blutdruck zu messen und danach nochmals bei ihm vorzusprechen.
Eine Viertelstunde später trafen die Vitalwerte auch bei uns im Cockpit ein: Puls 68 und ein Blutdruck um den 90% der Passagiere unseren Patienten beneidet hätten. So viel zu Thema Tachykardie. Nach erneuter Konsultation der REGA verabreichten wir dem Passagier Sauerstoff und ein leichtes Beruhigungsmittel, womit das Problem gelöst war. Somit musste ich auf meine erste Eisbärensichtung verzichten…
Kurz vor Edmonton verdrängte mich mein Kapitän auf den rechten Sitz und für den Rest des Fluges fungierte ich als Copi/PF (Pilot Flying). Nach Überquerung der Rocky Mountains besuchte uns über Reno wieder einmal die Kabinenchefin und meldete, dass einer Passagierin in einer Toilette eine Vene im Arm „explodiert“ sei. Durch seine korrekte Ferndiagnose im vorhergehenden Fall ermutigt, tat der neunmalkluge Copilot/PF auch hier sofort seine fachmännische Meinung kund: „Vene ist nicht so schlimm. Ein Druckverband sollte das Problem lösen.“ „Genau das versuchen wir, aber in der Toilette sieht es aus wie in einem Schlachthaus!“ meinte die Maître Cabin leicht genervt und verschwand wieder Richtung Notfallstation. Wir im Cockpit übten uns derweil erneut in Planungsspielen. Da der Übeltäter eine Vene und keine Arterie war, entschieden wir uns gegen einen Abschwung in Reno und flogen vorerst weiter Richtung LAX.
Nach einer Weile erreichte uns die Meldung dass der Druckverband appliziert sei und zurzeit halte. Trotzdem bräuchten wir bei der Ankunft eine Ambulanz. Daraufhin beschlossen wir „Medical Emergency“ zu deklarieren und Anflugpriorität in Los Angeles zu verlangen. Nun lief alles wie am Schnürchen. Abkürzungen wurden zugeteilt, Geschwindigkeitslimiten aufgehoben und die Piste, die unserem Standplatz am nächsten lag, wurde uns zugeteilt. So ging es im Eiltempo Richtung Boden und ich musste mir echt etwas einfallen lassen, dass wir am Schluss nicht zu hoch und zu schnell waren. Nach der Landung erteilte uns der Tower bei einer Geschwindigkeit von 150 km/h bereits die Rollfreigabe zu unserem Standplatz, den wir wenige Minuten später erreichten.
Die Passagiere wurden angewiesen sitzen zu bleiben, bis die Rettungssanitäter die Patientin versorgt hätten. Die Paramedics liessen denn auch nicht lange auf sich warten, waren aber grenzenlos enttäuscht, als sie bemerkten, dass unser Notfall bereits einen perfekten Druckverband besass und das Flugzeug, zwar etwas geschwächt, aber auf den eigenen Beinen verlassen konnte…