Aus dem Umschlag

Ich sitze im Cockpit, schaue auf die geschlossene Wolkendecke unter uns und diskutiere mit meinem Copi über dies und das. Ab und zu beantworte ich einen Funkspruch, mache einen Fuel Check oder programmiere den am nächsten liegenden Flugplatz im Navigationsrechner – just in case…

Gerade genehmige ich mir einen Schluck kalten Kaffee. Mein Blick schweift über den sogenannten Lower ECAM Display und ich höre mich sagen „Oh shit wir müssen absinken!“

„Was? Warum?“ fragt mein Copi.

„Wir sind out of envelope!“

„Hä?“

Ich zeige auf die Aussentemperatur Anzeige: „-71°C“

„Gibt es da eine Limite?“

„Und ob! -70°C ist das Zertifizierungslimit auf dieser Immatrikulation.“

Ich greife zum Funk „SWISS 1248 request descent to FL350 due to low outside temperature“ was mit einem „Standby“ quittiert wird. Mittlerweile ist die Temperatur noch um ein weiteres Grad gesunken und ich bin froh als wir endlich die Freigabe zum Absinken erhalten. Auf dem 5° wärmeren und damit wieder im grünen Bereich liegenden FL350 angekommen, schlage ich die Limite nach und zeige sie meinem jungen Kollegen. „Was für Probleme könnten denn da entstehen?“ fragt dieser. „Es gibt einen dokumentierten Fall, bei dem wegen zu tiefer Aussentemperatur die Navigationsplattformen ausgestiegen sind. Aber auch andere Systeme könnten Schaden nehmen…“

Kurz darauf warnt uns eine sogenannte Advisory vor tiefer Treibstofftemperatur in einem unserer Flügeltanks: -39°C. Kein Grund zur Aufregung, da das Limit für unseren JET A1 Treibstoff bei -43°C liegt. Aber das gilt es im Auge zu behalten…

20 Minuten später nähert sich die Temperatur mit -42°C bedrohlich dem Minimum und wir entschliessen uns den Sinkflug knapp 10 Minuten zu früh zu beginnen. Hier oben ist es einfach zu kalt!

Der Anflug auf Stockholm und die Bodenabfertigung verläuft dann völlig ereignislos. Gut 5 Minuten vor dem Flugplan sind Boarding und Beladung abgeschlossen. Ich mache noch kurz meine Begrüssungsansage und begebe mich dann ins Cockpit. Der Copi zeigt auf einen Bildschirm: APU AUTO SHUTDOWN steht dort in orangen Lettern. „Der APU Start hat nicht geklappt. Ich versuche es noch einmal.“ Gespannt schaue ich auf den Bildschirm und sehe wie die Abgastemperatur den roten Bereich erreicht, worauf das Hilfsaggregat zum zweiten Mal automatsch abschaltet. „Shit!“

„Das Starterlimit liegt bei drei Versuchen, dann muss man 60 Minuten warten“ erkläre ich meinem Copi. „Besser wir lassen das Ding ein paar Minuten abkühlen, bevor wir den letzten Versuch starten. Eventuell ist die Steuerung eingefroren – vielleicht taut sie ja durch die heissen Abgase auf…“

5 Minuten später klappt es tatsächlich und wir können das Flugzeug dennoch pünktlich zurückstossen. Wir rollen zur Startpiste, wo vor uns noch drei andere Flugzeuge starten werden. Gerade als wir die Bewilligung zum auf die Piste rollen erhalten macht unser Warncomputer wieder einmal „Bing“. DOOR BULK CARGO steht da wieder in orangen Lettern. Zudem zeigt der System Display eine offene Bulk Türe. „Ich kann hier noch rechts weg drehen. Sag das dem Tower und dass wir wegen dieser Warnung zurück auf einen Standplatz müssen.“

Während dem zurückrollen informiere ich kurz den Kabinenchef und danach ruft mein Copi über Funk den Handling Agenten. Zurück am Gate erkläre ich zuerst den Passagieren das Problem, danach erscheint auch schon das Bodenpersonal. Während der Copi mit der Swiss Netzwerk Leitstelle in Zürich telefoniert, renne ich aus dem Flugzeug und kontrolliere die fragliche Frachttüre. Sieht alles normal aus. Hmm… Ich öffne und schliesse das Bulk einige Male unsanft, dann verriegle ich es wieder und renne zurück in Cockpit. Die Anzeige ist wieder normal. „Da war wohl der Sensor hängen geblieben. Eingefroren?“ grinse ich meinen Copi an. Ich informiere meine Passagiere, dass wir in Kürze wieder bereit sein werden und danach meldet der Copi uns auf dem Tower bereit.

„You need a new departure time, as your slot expires in 3 minutes.“ Auch das noch…

Nach zwei weiteren Telefonaten mit Swiss Leitstelle und Dispatch erhalten wir einen neues Startfenster: In 25 Minuten! „Grrr… Dann informiere ich wieder einmal unsere Passagiere…“

Mit gut 40 Minuten Verspätung können wir endlich wieder los. Der Copi fragt mich, was er als Begründung für die Verspätung angeben soll. „Die Scheiss Kälte!“ knurrt sein leicht genervter Commander. „Was, das gibt es nicht auf der Eingabemaske? Na dann drück halt Technischer Defekt und Slot…“

6 Antworten to “Aus dem Umschlag”

  1. Till Says:

    Besten Dank für diesen tollen Beitrag! Viel Technik direkt aus dem Cockpit, super 🙂

  2. Gert Says:

    wieder was dazu gelernt! Danke 🙂

  3. Richi Says:

    „Grrrr“…Brrrrh…bibber…wie Kalt da oben!

    Sieht so aus als ob diese Höhenkaltluft in den letzten Tagen Bekanntschaft geschlossen hätte mit unseren hiesigen, aussergwöhnlich warmen Luftverhältnissen, inkl. Föhn.

    „Ruzica“ und „Susanna“ nannten sich die daraus resultierenden Tiefdruck-Stürme, gestern sowie vorgestern angelangt in unseren „südlichen“ Breitengraden;-)

  4. Richi Says:

    ahem…bzw…P.S:
    „Aus dem Umschlag“

    …der Titel hier gefällt mir ausserordentlich gut:-)
    „Aus dem Umschlag“: Auf Deutsch klingt das so schön bürokroatisch, etwa so wie „Eingabemaske“:-)

    „Out of the envelope“: auf Englisch, mutet das less bureaucratic an: Klingt eher wie „Out of the Box“…oder so

  5. Bernie Says:

    Spannender Beitrag!
    Wie ist das eigentlich mit der Fuel-Temperatur-Warn-Limite, wenn man eine Mischung von JET A1 und JET-A im Tank hat? (Im November-Land ist ja bekanntlich JET-A Standard, was früher gefriert.)
    Muss man da zur Sicherheit die Limite von JET-A nehmen? Rechnet der Computer eine Limite aus? Oder bekommt man im November-Land mittlerweile auch JET-A1 getankt?

    • skypointer Says:

      JET-A ist nach wie vor der Standard in den USA. Bei Gemisch muss die tiefere Limite genommen werden. Beim Airbus 330/340 wird jedoch warmer Treibstoff, welcher im Triebwerk zur Ölkühlung verwendet wurde, in den Flügeltank zurückgeführt. Deshalb ist die Fuel Temperatur trotz den langen Flugzeiten normalerweise kein Problem.

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